Hallo,
Ich habe vor einigen Wochen jemanden kennengelernt. Diese Person hat mir davon berichtet, dass sie seit ein paar Monaten wegen PTBS in Behandlung ist. Wir verstehen uns sehr gut und sind uns sehr nah gekommen. Da wir von vornherein sehr offen miteinander gesprochen haben, erzählte ich ihm, dass ich anfange Gefühle für ihn zu entwickeln. Wir haben uns schon vorher des Öfteren gesagt, dass wir uns gernhaben. Aber als es um diese konkreten Gefühle meinerseits ging, hat er gesagt, dass er zu seinen Gefühlen schon fast zwei Jahre keinen Zugang mehr hat. Manchmal empfindet er das auch so wie ich, aber es gehe auch immer wieder weg. Er macht sich große Sorgen mir zur Last zu fallen, da er davon ausgeht, dass das kommende Jahr sehr schwer für ihn wird: Er will sich seinem Trauma stellen.Nun frage ich mich, ob es sich lohnt, ihn auf diesem Weg zu begleiten, oder ob ich mich distanzieren sollte. Es würde sicherlich belastend für mich werden, aber ich habe auch das Gefühl, dass er was Besonderes ist und dass das zwischen uns etwas Besonderes werden könnte. Aber es wäre vermutlich mit vielen schweren Phasen verbunden, gerade in der ersten Zeit. Auch weil er eben sagt, dass er dieses völlige Verliebtheitsgefühl gerade nicht empfinden kann.
Vielleicht haben sie ja Tipps für mich oder können die Situation aus einer anderen Perspektive beleuchten.
Vielen Dank und liebe Grüße
Liebe Leserin,
im Grunde höre ich die Frage, ob es sich lohnt, die Arbeit in diese Beziehung zu investieren.
Meine klare Antwort darauf: Ja.
Ich kann das so klar beantworten, weil sich die Arbeit in eine Beziehung immer lohnt. Sie lässt uns wachsen.
Was die Zukunft bringt, wissen Sie nicht. Wie die Traumatherapie in seinem speziellen Fall verläuft, wissen Sie nicht. Es kann auch alles viel leichter als erwartet verlaufen.
Ich vertrete durchaus die Meinung, dass Traumatherapie anstrengend ist. Aber das ist ja sein Job. Nicht Ihrer.
Wenn Sie eine offene Kommunikation haben, dann könnten Sie das nutzen, um klare Absprachen für ihre Beziehung zu treffen.
- Er allein ist dafür verantwortlich wie es ihm geht.
- Sie allein sind dafür verantwortlich wie es Ihnen geht. Damit ist ausgeschlossen, dass er Sie belastet.
- Wenn es Ihnen nicht gut geht oder Sie sich belastet fühlen, sorgen Sie für sich. Das ist Ihre Aufgabe. Wenn er etwas dazu beitragen kann, sagen Sie es ihm. Er kann dann entscheiden, ob er das gerade geben kann.
- Anders herum genauso. Wenn es ihm nicht gut geht, dann sagt er das einfach. Wenn er den Eindruck hat, dass Sie ihn unterstützen können, dann sagt er Ihnen das und auch was genau Sie tun können, um ihn zu unterstützen. Sie können dann entscheiden, ob Sie das gerade geben können.
- Jeder akzeptiert die Entscheidungen des anderen.
- Jeder weiß, dass der andere wohlwollend ist, unterstützen will, aber immer zuerst nach sich selbst schauen muss und akzeptiert diese Haltung.
Wenn Sie das umgesetzt bekommen, haben Sie ein gutes Fundament, um mit der Situation umzugehen und Ihre Beziehung gemeinsam auf eine gute Art zu gestalten und wachsen zu lassen. Das größte Problem entsteht dann, wenn man in eine „Opferhaltung“ gerät. Und die ist verbreiteter als man so denkt.
Die Opferhaltung ist eher ein kulturelles Phänomen, eine Art psychologische Pandemie als eine Ausnahme.
Mit „Opferhaltung“ meine ich die Haltung, dass „immer die anderen“ schuld sind. Eine Haltung, die uns immer wieder zum Opfer und damit ohnmächtig macht.
Ein paar Beispiele für diese Opferhaltung
- Der Staat beschränkt dieser Tage meine Freiheit. Ich fühle mich eingeschränkt. Der Staat muss es anders machen.
- Immer werden die anderen befördert.
- Die Lehrerin mich nicht mag. Die benotet mich schlecht.
- Der Müller ist schuld, dass ich mich so aufregen muss.
Merken Sie es? Das ist eine Frage der Ursachenzuschreibung. Ich könnte auch sagen:
- Okay, ich nehme die Unannehmlichkeiten für die Sicherheit und Gesundheit anderer in Kauf. Ich kann auch andere Lösungen finden und habe alles was ich brauche zum Leben: Essen, trinken, ein Dach über dem Kopf und warm. Ich habe Strom und kann unendlich viele Dinge tun, um mich sinnvoll zu beschäftigen.
- Was machen die anderen, dass sie befördert werden? Was kann ich da lernen?
- Vielleicht habe ich nicht genug gelernt. Vielleicht bin ich auch einfach nicht so gut in Deutsch. Aber ich könnte schauen, was ich machen kann, um besser zu werden. Ich frage die Lehrerin mal, warum sie mir die schlechte Note gegeben hat.
- Warum rege ich mich jetzt eigentlich so auf? Ach so, der Typ redet genau wie mein Sportlehrer damals. Blödes Geschwätz. Das hält mich nicht auf. Der ist es gar nicht wert, dass ich mich so aufrege. Und im Grunde hat er Recht. Auch wenn er an seinen Ausdrucksformen feilen könnte.
Und dabei geht es nicht um die konkrete Situation, sondern um eine Haltung.
Die gesunde Haltung ist: Ich bin verantwortlich für mich. Vollumfänglich.
Ja, es ist nicht immer alles rosig. Aber ich kann immer etwas lernen und dann den nächsten Schritt in meinem Leben machen. Ich muss nicht an der Vergangenheit festkleben. Es sind nur Erfahrungen, die ich gemacht habe. Das bin nicht ich, nur meine Erinnerungen. Das bestimmt weder meine Zukunft noch mich als Person. Ich allein bin der Chef in meinem Leben. Oder die Chefin natürlich.
Das hat nichts damit zu tun, dass man Opfer einer Gewalttat werden kann.
Täter tragen die Schuld, aber Opfer sind verantwortlich für Ihr Befinden. Egal, was der Täter tut, das Befinden wird sich nur ändern, wenn die betroffene Person etwas tut.
Ein Schritt, der zeigt, dass Ihr neuer Freund Verantwortung übernommen hat ist, dass er Therapie macht. Das ist doch sehr positiv.
Für eine Beziehung geht es darum zu wissen, wer für was verantwortlich ist. Für meine Gedanken, mein Fühlen und Handeln kann nur ich verantwortlich sein. Das ist in meinen Augen die zentrale Erkenntnis für ein glückliches Leben.
Um diese Beziehung unter den gegebenen Umständen zu erkunden, braucht es in erster Linie eine Haltung.
Gefühle sind überlebensnotwendig
Noch ein paar Worte zum Thema Gefühle. Sie sind Teil unseres täglichen Überlebens aber auch Teil einer menschlichen Entwicklung über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg. Hier also eine kurze Zusammenfassung.
- Wut: Zeigt uns eine Bedrohung an, auf die wir noch reagieren können, weil wir noch „Kampfstrategien“ zur Verfügung haben.
- Angst: Zeigt uns eine Bedrohung an, auf die wir nicht mehr reagieren können, weil uns keine Strategien mehr zur Verfügung stehen. Weiterlesen?
- Ekel: Zeigt uns an, dass etwas giftig oder verdorben ist.
- Trauer: Zeigt an, dass wir Hilfe brauchen, in der Regel Trost, und ist Teil der Steuerung von Beziehungen.
- Freude: Zeigt uns an, was uns guttut. Das ist ebenfalls vorwiegend Teil der Steuerung von Beziehungen.
Liebe oder Verliebtsein sind aus meiner Sicht keine Gefühle. Meine Definitionen dafür lauten:
Liebe ist das Empfinden von tiefer Verbundenheit mit einer anderen Person oder einem Tier. Liebe hat das Wohl des anderen im Blick. Sie ist selbstlos.
Verliebtsein beschreibt für mich einen Zustand der freudvollen Unsicherheit. Das sind die Zeiten, in denen wir aufgeregt sind, weil wir uns auf den anderen freuen, aber noch unsicher darüber sind, ob der andere uns genauso mag wie wir ihn.
Im Grunde ist es das, was Sie beschreiben: Ein Zustand der Unsicherheit.
Ihr Freund ist gerade mehr mit seiner Vergangenheit (Erinnerungen) und mit den körperlichen Folgen (Stressreaktion / PTBS) seiner belastenden Lebenserfahrungen beschäftigt. Da kann es schonmal sein, dass das im Vordergrund steht. Das wird sich ändern, wenn er lernt, was er in der Therapie lernen will.
Gefühle spüren wir, wenn wir präsent im Leben sind. Als Menschen haben wir die Möglichkeit, Gefühle auf ganz unterschiedliche Weise nicht zu spüren. Wir können sie ignorieren/wegdrücken oder unser Hirn schützt und vor zu viel Gefühl, sprich Erregung. Letzteres kommt bei traumatischen Erfahrungen öfter mal vor. Letztendlich geht es aber nur darum zu lernen, mit diesen Gefühlen und mit den Erinnerungsreaktionen umzugehen. Dafür ist die Therapie da. Oder zumindest ist das mein Ansatz für eine Traumatherapie. Das heißt nicht, dass es schnell geht. Aber es sollte für die betroffene Person wahrnehmbar sein, dass sie etwas lernt, um besser mit den Folgen der traumatischen Erfahrung umzugehen.
Ihr neuer Freund hat den Vorteil, dass Sie ihre Gefühle offenbart haben. Da gibt es keine Ungewissheit darüber. Sie haben gesagt, wie Sie sich gerade fühlen. Er kann Ihnen diese Auskunft nicht so klar geben. Das heißt, für Sie bleibt die Unsicherheit bestehen.
Mein Vorschlag, also… Tipps??
Machen Sie sich ihre Haltung bewusst und treffen Sie die Absprachen mit ihrem Freund. Lernen Sie etwas über traumatische Erfahrungen, die Posttraumatische Belastungsstörung und was in einer Traumatherapie passiert. Hier im Blog finden Sie dazu eine Menge Informationen, zum Beispiel meine PTBS-Reihe.
Lernen Sie jeden Tag ein bisschen darüber, wie wir als Menschen in den unterschiedlichsten Situationen funktionieren. Das wird dazu führen, dass Sie neue Situationen zu ihrem Vorteil wahrnehmen können und sich keine Sorgen machen müssen. Sie werden erwarten, dass es gut läuft, weil Sie wissen, dass es für alles eine gute Lösung gibt. Auch wenn es mal schwer oder schmerzhaft ist. Das Leben will gespürt, gelebt und bewältigt werden. Jeden Tag.
Dazu wünsche ich Ihnen in diesem neuen Jahr alle notwendige Kraft
Ihre Stefanien Rösch