„Überwundene Angst bringt Freiheit und Verantwortung“ – Stefanie Rösch, 2013

Posts zum Tag "Weiße Folter"

Leserfrage: Wie kann ich „meine“ Mutter Gothel loswerden? Wie geht vertrauen?

06.01.2021 Veröffentlicht von Leserfragen 0 Kommentare

Hallo,
ich habe vor kurzem mit meiner Tochter den Märchenfilm Rapunzel gesehen und er hat mich sehr berührt. Jetzt lese ich auf Ihrem Blog über den Film Rapunzel – neu verföhnt. Ich habe genau das erlebt, was Sie Weiße Folter nennen. Viele Jahre habe ich gebraucht, um mich von meiner Mutter zu lösen und ihr „Spiel“ zu durchschauen. Ich bin durch Rapunzels „Wüste“ gegangen, als mir bewusstwurde, dass ich eigentlich keine Mutter habe. Seit meiner Kindheit leide ich an Angstzuständen und Depressionen. Laut verschiedener Therapeuten habe ich aber kein „richtiges“ Trauma erlebt, weil es eben „weiß“ war. Ich denke, deswegen haben auch verschiedene Therapien bei mir nicht funktioniert. Ich fühle mich sehr traumatisiert und habe auch viele Symptome. Es tut gut bei Ihnen zu lesen, dass meine Gefühle eine Berechtigung haben. Ich habe genau das, was Sie beschreiben: Ich kann mich nicht auf menschliche Beziehungen verlassen. Ich bin immer verschlossen. Auch bei Therapeuten ist es für mich kaum möglich, ihnen zu vertrauen. Ich habe mich sozusagen von Frau Gothel gelöst und sitze jetzt in meinem Turm und traue mich nicht raus. Haben Sie einen Vorschlag, was ich tun kann? Herzlichen Dank für Ihre Seite!

Wie geht Vertrauen in einer feindlichen Welt?
Foto von Amine M’Siouri von Pexels

Liebe Leserin,

ich glaube, Rapunzel berührt Sie und andere Menschen, weil sie trotz ihres Schicksals soviel Lebensfreude und Lebensmut behalten hat. Es ist nur ein kurzer Moment, in dem Sie überlegt, wieder zurück zu gehen. Doch dann hält sie nichts mehr auf. Auch nicht der Versuch von Ryder, sie ins Hässliche Entlein zu bringen, wo sämtliche Verbrecher von einem besseren Leben träumen.

Was erstaunlich ist, und eben Film, dass Rapunzel trotz all der schlechten Behandlung durch ihre Entführerin einen positiven Blick auf das Leben behalten hat.

Wie das möglich ist?

Rapunzel akzeptiert ihre Umwelt so wie sie ist

Sie macht das Beste daraus. Sie lebt in der Gegenwart. Sie verschwendet keinen Gedanken an die Vergangenheit. Das macht sie zu einer Comicfigur.

Rapunzel akzeptiert die Umwelt so wie sie ist. Sie lebt in der Gegenwart und schaut nicht zurück.
Danke Pixaby auf Pexels für das Foto

Was diese Entführerin 17 Jahre lang mit Rapunzel gemacht hat, geht an einem echten Menschen nicht so spurlos vorbei. Ein echter Mensch hat keine andere Möglichkeit als die Sichtweisen der Mutter Gothel ungeprüft zu übernehmen. Mutter Gothel bringt Rapunzel nicht bei, ihre Behauptungen an der Realität zu prüfen. Ist die Welt wirklich so gefährlich? Hockt wirklich hinter jedem Strauch ein Bösewicht? Rapunzel durfte den Turm gar nicht verlassen. Sie ist nie an einem Strauch vorbeigegangen, um zu schauen, ob dahinter ein böser Bube sitzt.

Sie, liebe Leserin, mussten andere Strategien entwickeln, um in der Welt ihrer „Mutter Gothel“ überleben zu können.

Was ist ein „echtes“ Trauma?

Es gibt dazu unterschiedliche Definitionen. Der Begriff Trauma bedeutet erst mal nur „Verletzung“. Und so wie es sich anhört, haben Sie einige Verletzungen erfahren. Die Verletzungen sind durch bedrohliche Situationen oder bedrohliches Verhalten von anderen entstanden, in ihrem Fall von Ihrer „Mutter Gothel“.

Es gibt aber auch die Definition, dass Trauma eine „objektiv“ lebensbedrohliche Erfahrung sein muss. „Objektiv“ meint dann so Erfahrungen wie Opfer von Kriegshandlungen zu sein, sexueller oder körperlicher Gewalt, Folter, schweren Verkehrs- und anderen Unfällen, sowie diese Erfahrungen beobachten zu müssen. Einzige Ausnahme bildet die Arbeit von polizeilichen Ermittlern, die entsprechend belastendes Videomaterial (Kinderpornografie) anschauen müssen. Denen wird auch zugestanden, traumatisiert zu werden, obwohl es keine „objektive“ Bedrohung für den Ermittler gibt.

Aus meiner Erfahrung spielt allein das subjektive Erleben von Lebensbedrohung eine Rolle, ob jemand traumatisiert wird. Jedenfalls definiere ich Trauma so: Es sind die Folgen, die entstehen, wenn man dem Tod ins Gesicht sieht. Ob man traumatisiert ist oder nicht, kann man aber frühestens 4 Wochen nach dem Ereignis sagen, manchmal auch erst sehr viel später. Letztendlich kann man nur anhand der Beschwerden sagen, ob jemand traumatisiert ist oder nicht. Die typischste Folge einer traumatischen Erfahrung ist die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS).

Aber das bedeutet nicht, dass wenn man keine PTBS hat, man nicht schlimme Verletzungen erlebt hat. Ich glaube, es spielt am Ende keine Rolle, wie wir es nennen. Wichtig ist, die Folgen zu erkennen und etwas dagegen zu unternehmen, um sich davon zu befreien.

Psychische Beschwerden sind Ausdruck des Versuchs in einer lebensfeindlichen Umgebung zu überleben
Foto von Nacho Juárez von Pexels

Psychische Beschwerden sind Ausdruck des Versuchs in einer lebensfeindlichen Umgebung zu überleben

Depression ist häufig Ausdruck der Überzeugung, dass man keinen Einfluss im Leben hat. Betroffene haben den Eindruck, sie können nichts bewirken, sich nicht wehren und sind für alles verantwortlich, vor allem für Dinge, über die sie keine Kontrolle haben, wie zum Beispiel die Gefühle von anderen. Diese dauernde Überforderung macht müde und lässt einen irgendwann resignieren. „Ich kann ja sowieso nichts ändern“, ist dann eine fast unausweichliche Überzeugung.

Ängste zeigen an, dass man keine Handlungsmöglichkeiten mehr hat und das Hirn die Situation als lebensgefährlich einschätzt. Aber auch erwarteter Schmerz, vorweggenommenes Versagen oder die Vorstellung von Einsamkeit können zu Angst führen. Unser Hirn macht da keinen großen Unterschied zwischen Vorstellung und Gegenwart. Die Vorstellung von eine Angstsituation reicht aus, um auch eine Angstreaktion im Körper zu verursachen, die wir als unangenehm, eben als Angst oder Panik bezeichnen. Je nachdem, was wir gelernt haben.

Angst macht vorsichtig und deswegen einsam

Wenn ich wiederholt von jemandem bedroht oder abgewertet werde. Wenn ich immer wieder Lebenserfahrungen aufgezwungen bekomme, die mir Angst machen, dann werde ich vorsichtig. Das ist mal grundsätzlich eine natürliche und gesunde Reaktion. Wenn ich die Erfahrung gemacht habe, dass ein Säbelzahntiger gefährlich ist, dann ist es gut vorsichtig zu sein, wenn ich einem Säbelzahntiger begegne. Bei einem Zebra macht das erstmal keinen Sinn. Aber so ist unser Hirn.

Wenn wir von unserer Mutter schlecht behandelt wurden, dann geht unser Hirn davon aus, dass auch andere Menschen gefährlich sind. Wir werden vorsichtig, was andere Menschen angeht. Und wenn es sehr vorsichtig ist, nennen wir das misstrauisch. Vorsichtig zu sein, ermöglicht uns, Kontakt mit anderen zu haben, auch wenn wir nicht wissen, was wir vom anderen erwarten sollen. Wenn wir misstrauisch sind, unterstellen wir dem anderen „negative Absichten“, wir erwarten, wieder verletzt zu werden, obwohl wir den anderen gar nicht kennen. Diese Haltung behindert den Kontakt zu anderen. Vorsicht ist okay, Misstrauen hindert am Leben und macht einsam.

Mutige Entscheidungen zu vertrauen sind die Lösung
Foto von James Wheeler von Pexels

Mutige Entscheidungen zu vertrauen sind die Lösung

Eine Klientin fragte mich neulich: Was ist kühnes Vertrauen? Was für ein tolle Frage.

Und genau die Antwort für Sie, liebe Leserin. Um gesund zu werden und sich von den Auswirkungen einer „Mutter Gothel“ zu befreien braucht es das kühne Vertrauen einer „Rapunzel“. Kühnes Vertrauen meint mutiges Vertrauen. Mutig zu vertrauen ist eine Entscheidung.

Vertrauen ist kein Gefühl, keine Empfindung, sondern eine Entscheidung, die wir die meiste Zeit unbewusst, sprich ohne darüber nachzudenken fällen. Wenn man wie Sie viele Enttäuschungen und Verletzungen erlebt hat, bleibt einem nur die bewusste Entscheidung übrig. Es bedeutet, wie diese Klientin immer wieder sagt: „Alles auf eine Karte zu setzen“ und trotz Misstrauen zu vertrauen, gerade zum Trotz gegen die innere Stimme, die einem Angst machen will. Nur so kann man nach und nach Erfahrungen und damit Erinnerungen sammeln, die der Überzeugung „Menschen sind hinterhältig oder böse“ entgegenstehen. Nur so kann man die liebevollen und zugewandten Erfahrungen machen, die notwendig sind, um diese Tiefen Gräben zwischen sich und der Welt zu überwinden.

Es ist ein anstrengender Weg und nur für mutige Menschen gemacht. Dass Sie mir geschrieben haben, ist für mich der Beweis, dass ich es mit einer mutigen Person zu tun habe. Sie haben immer wieder Hilfe in der Therapie gesucht. Das ist auch ein Beweis dafür, dass Sie ein mutiger Mensch sind. Ihr Wille zur Heilung und zur Freiheit zeigt sich mir darin, dass Sie sich von Ihrer „Mutter Gothel“ gelöst haben.

Mein Vorschlag

Bleiben Sie dran. Schauen Sie, was Sie nicht können und suchen Sie sich jemanden (Therapeutin), die Ihnen hilft, diese Dinge zu lernen. Vertrauen kann man lernen. Beziehungen zu führen kann man lernen. Man kann lernen, sich zu schützen und zu wehren. Alles was es braucht, sind mutige Entscheidungen und den Willen durchzuhalten. Ich bin davon überzeugt, dass Sie beides haben.

Für Ihren Weg wünsche ich Ihnen viel Kraft.

Ihre Stefanie Rösch

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Nur Sie sind die Heldin in Ihrem Leben 🙂

Du bist die Heldin in Deinem Leben
Foto von Thought Catalog von Pexels

Psychologie und Film: Rapunzel neu verföhnt – Wie Weiße Foltermethoden in einen Disneyfilm kommen

03.11.2013 Veröffentlicht von Psychologie und Film 0 Kommentare

Mit diesem Film ist es den Disney-Autoren super gelungen, ein Doublebind zu zeigen und was diese Zwickmühlensituation mit dem „Opfer“, in diesem Fall Rapunzel, macht.

Der Begriff „Doublebind“ (sprich: Dabbelbeind) kommt aus dem Englischen und bedeutet „Doppelte Bindung“, zu Deutsch Zwickmühle. Wenn wir Informationen bekommen, die uns zu sich widersprechenden Handlungen auffordern, dann erzeugt das in uns große Spannung. Wir fühlen uns in der Zwickmühle.

Rapunzel bietet dazu ein gutes Beispiel: Mutter Gothel, die Rapunzel entführt und in den Turm gesperrt hat, will sie in diesem Turm halten. Sie entzieht Rapunzel andere Beziehungen und Bewegungsfreiheit. So ist Rapunzel in der Einschätzung ihrer Welt und ihres Verhaltens auf den guten Willen von Mutter Gothel angewiesen. Um überleben zu können, muss sie sich den Wünschen und Erwartungen von Mutter Gothel unterordnen. Mutter Gothel will Rapunzel wegen ihrer magischen Haare bei sich behalten und von sich abhängig halten. Deswegen sagt sie ihr folgendes:

Mutter Gothel gibt Rapunzel sich widersprechende Informationen: Ich sorge für Deine Sicherheit, ich liebe Dich, ich will Dein Bestes. Gleichzeitig wertet sie Rapunzel ab und macht ihr Angst: du bist tollpatschig, pummelig, draußen hat es gefährliche Männer und giftigen Efeu. Auf diese Weise bindet sie Rapunzel an sich. Rapunzel hat Angst vor dem Leben außerhalb des Turms, will es ihrer Mutter recht machen und hat doch die Sehnsucht nach Freiheit und das Gefühl, ihrem Herzen und ihrer Neugier folgen zu müssen. Das heißt, sie schwankt zwischen Angst vor der Welt, Schuldgefühlen gegenüber der Mutter und ihrer Sehnsucht/Neugier.

Als sie es mit Hilfe des Diebes Eugene schafft, den Turm zu verlassen, geht es ihr hinterher so:

Die innere Spannung zwischen ihrem Gefühl von Freiheit und dem Bedürfnis von ihrer Mutter geliebt zu werden zerreißt sie fast. Die Autoren haben das auf eine humorvolle Weise sehr gut getroffen.

Da es sich um einen Disney Film handelt, wird Rapunzel durch ihre innere Zerrissenheit nicht aufgehalten. Sie geht ihren Weg. Sie will herausfinden, wer sie ist.

Hier draußen im Leben haben es Menschen, die solchen Umständen ausgesetzt waren oder in einer solchen familiären Umgebung groß werden mussten, deutlich schwerer. Nicht umsonst wird der gezielte Einsatz von Reizentzug und Doublebind-Strategien als Weiße Folter bezeichnet. Weiße Folter, weil die Foltermethode keine körperlichen Spuren hinterlässt. Die psychischen Folgen sind jedoch verheerend. Wenn der Folterer, also derjenige, der seinem Opfer Schmerz/Leid zufügt, auch die Person ist, die das Opfer hinterher versorgt, sich kümmert und freundlich ist, dann bezeichnet man dieses Vorgehen als Weiße oder Psychologische Folter. Das Opfer kann sich nicht mehr auf menschliche Beziehungen verlassen. Das Vertrauen in die Menschheit wird gebrochen, es entsteht völlige Abhängigkeit vom Folterer. Das Opfer wird versuchen, es dem Folterer Recht zu machen, um weiterer Gewalt zu entgehen. Aber die Gewalt ist nicht zu beeinflussen. Depression und nicht selten Suizid sind die Folge.

Außerhalb von Disney zieht diese Art der Misshandlung, die es auch einfach in Familien gibt, schwere psychische Schäden nach sich. Wenn Kinder ständig in dieser Zwickmühle leben müssen, z.B. mit solchen Aussagen wie „Ich muss Dich bestrafen, weil ich Dich lieb habe.“ Oder „Ich muss Dich bestrafen, weil Du böse warst.“, dann hinterlässt das in vielen Fälle schwere Störungen der Selbstwahrnehmung des Kindes. Das Kind wird sich wertlos fühlen, denn schließlich muss es ja „böse“ sein, um so oft bestraft zu werden. Wütend auf den Elternteil zu sein, der aus ganz egoistischen Gründen gegenüber dem Kind gewalttätig ist, ist als Kind unmöglich und selbst im Erwachsenenalter für viele Betroffene nur unter großer Angst und Mühe lernbar. Das Limbische System kann, weil diese Situationen so lebensbedrohlich waren, nicht zwischen Vergangenheit und Gegenwart (Ich-Zustände) unterscheiden, sondern „überlebt“ einfach, indem es alte Strategien des Überlebens, oft eine Form der Unterordnung, wiederholt, wiederholt, wiederholt.

Gut, dass Rapunzel trotz allem so gesund und innerlich so stark ist, dass sie ihrem Herzen folgen kann.

Alles in allem ein lustiger Film mit einem interessanten psychologischen Moment.

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Link zum Film auf IMDB.com, der meist englischsprachigen größten Filmdatenbank.
Link zur Filmbeschreibung auf Wikipedia auf Deutsch.
Hier das Amazon-Partnerlink zur DVD Rapunzel – Neu verföhnt in der einfachen Ausführung.

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