Leserfrage: Was, wenn bei der Exposition wirklich etwas Schlimmes passiert? Was ist der Unterschied zwischen Exposition, Überkompensation und Hochrisikoverhalten?
04.06.2020 Veröffentlicht von Stefanie Rösch Leserfragen 0 KommentareSehr geehrte Frau Rösch und Team,
herzlichen Dank für „Maskenpflicht löst Panik“ aus! Sehr hilfreich und eingängig erklärt. Allerdings ist es bei Gegenständen, noch dazu von einem selbst angelegt, einfach. Schwieriger wird es bei Orten und ganz schwierig bei Personen. Die Trennlinie Täter/Nichttäter zieht sich ja nicht an simplen Eigenschaften wie blond/schwarzhaarig, hell-/dunkelhäutig, Mann/Frau oder deutsch/nichtdeutsch entlang. Und wenn man sich erst das reale Verhalten anschaut, kann es zu spät sein. Jemand kann aggressiv sein oder einfach nur friedlich seiner Wut Ausdruck verleihen. Auch ein ehemals Krimineller kann reuig umgekehrt sein oder eben nicht, jemand mit psychiatrischer Erkrankung kreuzgefährlich sein oder auch nicht.
An einem sozialen Brennpunkt können auch friedliche Menschen leben, die wenig Geld haben oder es nicht besser wussten.
Hintergrund meiner Frage: Was, wenn bei der Exposition wirklich etwas Schlimmes passiert? Was ist der Unterschied zwischen Exposition, Überkompensation und Hochrisikoverhalten? Im focus gab es mal einen Beitrag über Menschen, die ein Trauma mit dem Anschauen von Gewaltvideos heilen wollten, was der falsche Weg sei.
In der Woche, in der mein Therapeut mit mir eine Expo machen wollte, hat der Mann, vor dem ich „irrationale“ Ängste hatte, am Ort der Exposition jemanden ermordet (wir waren nicht da). Als mir ein weiterer Therapeut ebenfalls eine Exposition dort vorschlug, geschah just in jener Woche ein SEK-Einsatz. Als ich (nachts und allein wg. Personalmangel) dort arbeiten musste, bekam ich tatsächlich eine Morddrohung und die Polizei fragte mich, ob ich wahnsinnig sei.
Exposition brachte also keinerlei Verbesserung meiner Angst. Die Lernerfahrung „es ist vorbei“ fällt hier also weg.
Danke und freundliche Grüße
Liebe Leserin,
Lassen Sie mich ein paar Begrifflichkeiten definieren. Sie bilden die Grundlage dafür, wie ich Ihre Mail verstehe:
Als Täter bezeichne ich nur die Person, die gegen Sie als Betroffene gewalttätig wurde. Als eigene Gewalterfahrung beschreiben Sie eine Morddrohung. Die Person, die gedroht hat, ist Ihr Täter. Sonst niemand aus dem, was Sie hier geschildert haben.
Täter ist die Person, die Sie angegriffen und verletzt hat.
Natürlich ist mir bewusst, dass es mehr als eine Person gibt, die gewalttätig gegen andere wird oder werden kann. Aber für die Erklärungen hinsichtlich Traumareaktionen kann es nur um die persönlichen Gewalterfahrungen gehen. Traumatisierung entsteht in meinem Verständnis des Begriffs „Trauma“ durch persönliche Betroffenheit (Video: Krise vs. Trauma). Persönliche Betroffenheit entsteht auch, wenn ich unmittelbar Zeuge von Gewalt und Tod bin.
Von allen anderen Menschen wissen Sie es nicht. Sie wissen vielleicht, dass eine Person ein Gewaltpotential hat, weil Sie wissen, dass diese Person schonmal gewalttätig war. Aber das bedeutet in keinem Fall zwingend, dass diese Person auch Ihnen gegenüber gewalttätig oder in Zukunft überhaupt gewalttätig wird. Die Vorstellung, dass irgendeine Person mit Gewaltpotential Ihnen etwas tut, ist eine Sorge, also ein angstauslösender Gedanken.
Der Tatort ist der Ort der persönlichen Gewalterfahrung
Das gleiche gilt für Orte. Ein Tatort, bezogen auf eine traumatische Erfahrung, ist der Ort, an dem die Gewalterfahrung gemacht wurde. Alle anderen Orte sind für Sie als Betroffene keine Tatorte.
Natürlich bezeichnen wir allgemein und die Polizei Orte, an denen irgendjemand Gewalt erlebt hat, auch als Tatort. Aber das spielt für die persönliche Erfahrung und eine Traumatherapie keine Rolle. Die Vorstellung, dass ein Ort, an dem irgendjemand Gewalt erlebt hat, ein Tatort ist und deswegen dort Gewalt passiert, ist ebenfalls eine Sorge und kann insofern auch Angst auslösen.
Gewaltbereite Menschen sind nicht 24/7 gewalttätig
Meine Erfahrung in Bezug auf die Gefährlichkeit von Menschen ist eine andere als Ihre. Wobei Gefährlichkeit in meinem Verständnis den aktuellen Zustand einer Person beschreibt, in dem es zu gewalttätigem Verhalten kommen kann, aber nicht muss. Natürlich gibt es andere Zusammenhänge, in denen wir das Wort Gefährlichkeit benutzen. Für die Gefahr in einer konkreten Situation ist die aktuelle Gefährlichkeit einer Person ausschlaggebend für Ihre Sicherheit und damit für Ihr Sicherheitsverhalten.
In meinen Augen ist gewalttätiges Verhalten grundsätzlich erstmal gelernt. Ob jemand gewalttätiges Verhalten gelernt hat, wissen wir nur dann, wenn jemand bereits gewalttätig war. Aber auch das bedeutet nicht, dass die Person willkürlich gewalttätig also ununterbrochen gefährlich ist. In der Regel gibt es Auslöser für aggressives Verhalten: Frustration, Angst oder Erleben von Ungerechtigkeit. Dazu benötigt es in einer Situation um gewalttätig, also gefährlich zu sein, in den allermeisten Fällen einer (beobachtbaren) Stressreaktion, sprich Muskelspannung. Gewalttätiges Verhalten ist situativ und nicht so unberechenbar wie Sie es vermutlich empfinden.
Sicherheitsverhalten kann man lernen
Wer einen gefährlichen Arbeitsplatz hat, lernt in der Regel Strategien und Verhaltensweisen, um angemessen auf gefährliche Situationen reagieren zu können. Polizisten, Feuerwehrleute und Soldaten gehören dazu, aber zunehmend auch Mitarbeitende in Behörden. Gefährlich ist eine Situation, wenn unmittelbar Gefahr droht, d.h. wenn man die Gefahr wahrnehmen kann.
Der beste Schutz ist, auf das eigene Bauchgefühl zu hören. Sagt das Bauchgefühl „heute nicht“ dann folgen Sie dem. Wenn es sagt „nicht da lang“ machen Sie einen Umweg. Hier eine Buchempfehlung zu diesem Thema: (Amazonpartnerlink: https://amzn.to/2yz0d8R, den Blog unterstützen).
Zum Sicherheitsverhalten gehört, dass jemand weiß, wann und wo Sie einen Ortstermin haben und wann Sie planen zurück im Büro zu sein. Dazu gehört, die Anzeichen einer Stressreaktion erkennen zu können, um eine Situation frühzeitig verlassen zu können. Eine Trillerpfeife kann hilfreich sein, um Hilfe zu holen, oder so eine Tröte wie in den Fußballstadien. Richtig laut muss es sein. Auch ein Pfefferspray kann Ihnen einen Moment verschaffen zu flüchten. Das ist immer das Ziel: Flüchten aus der gefährlichen Situation.
Wer die Waffe hat, hat die Macht.
Grenzen setzen, laut werden können, und deutliche Stopp-Signale setzen sind ebenfalls Strategien, die Sie beherrschen sollten. Werden Sie unmittelbar bedroht und der Angreifer stellt eine Forderung, tun Sie was der Angreifer will (z.B. Geld geben, weggehen, den Blick abwenden). Wenn der Angreifer etwas will, hat man die beste Überlebenschance, wenn man ihm gibt, was er will. Wenn er Ihr Leben will, dann heißt es um sein Leben kämpfen, mit allem was man hat und ohne sich zurückzuhalten. Wird der Angreifer dabei verletzt, ist das seine eigene Schuld. Er hätte nicht angreifen müssen. Das war seine Wahl und Sie haben eine Notwehr gemacht.
Der Arbeitgeber ist für Ihren Arbeitsschutz zuständig. Informieren Sie sich.
Es könnte hilfreich sein, sich in diesem Punkt von Ihrer Berufsgenossenschaft beraten zu lassen. Eine Gefährdungsanalyse (Hier eine Internetseite mit entsprechenden Informationen) ist Aufgabe des Betriebes. Weisen Sie ihren Arbeitsgeber schriftlich darauf hin, dass ihr Arbeitsplatz ein besonderes Gefährdungspotential hat und es deswegen besonderer Schutzmaßnahmen bedarf wie eben doch zu zweit unterwegs zu sein. Dann können Sie beweisen, dass Sie ihren Arbeitgeber auf die Gefährdung hingewiesen haben. Sollte es während der Arbeitszeit zu einer Bedrohungssituation mit entsprechenden psychischen Folgen kommen, handelt es sich grundsätzlich erstmal um einen Berufsunfall, für dessen Abwicklung die Berufsgenossenschaft zuständig ist, nachdem der Arbeitgeber eine Unfallmeldung gemacht hat. Psychische Symptome einem Berufsunfall zuzuordnen wird in manchen Fällen gutachterlich geklärt werden müssen.
Exposition soll Erinnerungsinhalte verändern, damit es Ihnen besser geht.
Sich den Erinnerungen aussetzen und damit beschäftigen, das bedeutet Exposition. Exposition soll Erinnerungsinhalte so verändern, dass der Fehlalarm nicht mehr ständig ausgelöst wird. Das ist die Sache mit dem Sortieren der Warnreize, die ich in dem Video Maskenpflicht geschildert habe.
Als Therapeutin prüfe ich zuerst, ob ich eine Exposition vor Ort an einem Tatort sicher durchführen kann. Das ist in meinen Augen Voraussetzung. Wenn ich das nicht sicherstellen kann, kann ich keine Exposition vor Ort machen. Ich will auf jeden Fall verhindern, dass die Exposition gestört wird. Ziel der Exposition vor Ort ist ja, dem Gehirn zu zeigen, dass der Ort selbst keine Gefährdung darstellt, also nicht per se gefährlich ist. Allerdings geht es nicht darum, dass an diesem Ort nicht zu einem anderen Zeitpunkt etwas passiert. Es geht ausschließlich darum, dass die Exposition sicher durchgeführt werden kann. In den meisten Fällen ist der Tatort an sich nicht gefährlich, weswegen man diese Sicherheit aus meiner Erfahrung in den allermeisten Fällen herstellen kann. Expositionen vor Ort mache ich nicht alleine, sondern nehme eine Praktikantin oder andere zweite Person mit. So sind wir zu dritt. Zur Sicherheit.
Exposition, Risikoverhalten, Überkompensation: Am Beispiel des Kletterns
Wenn Sie in einen Klettersteig gehen, ohne entsprechende Ausrüstung und Vorsichtsmaßnahmen, dann würde ich das als Risikoverhalten bezeichnen.
Sie werden eine gute und sichere Erfahrung machen, wenn Sie sich durch einen Mit-Bergsteiger oder einen Anleiter sichern lassen. Sind Sie eine erfahrene Bergsteigerin, werden die sowohl den Wetterbericht berücksichtigen, wie auch geeignete Ausrüstung dabeihaben. So sorgen Sie für Sicherheit bei einer durchaus gefährlichen Tätigkeit. Das ist gesundes Verhalten.
Natürlich können Sie auch doppelt und dreifach sichern, bei der kleinsten Wolke zu Hause bleiben oder viel zu viel Essen mitnehmen. Es wäre dann zwar sicher, aber die Sichererungsmaßnahmen würden nicht mehr im Verhältnis zur Gefahr stehen. Das würde man wohl als Überkompensation bezeichnen. Allerdings ist das kein Wort, dass zu meinem psychologischen Wortschatz gehört. Der Begriff wurde von Alfred Adler geprägt, einem Arzt und Psychotherapeuten mit tiefenpsychologischem Hintergrund. Also ein grundsätzlich anderes Menschenbild mit einer anderen Sprache als der von mir bevorzugten verhaltensorientierten Sichtweise.
Da ist es wieder dieses Kommunikationsproblem, dieses Thema mit der Sprache, über das ich an verschiedener Stelle schon gesprochen habe (Link: Videos-Komunikation: Warum glaubt mir keiner? / Trauma und Kommunikation: noch ein Beispiel).
Was-wäre-gewesen-wenn-Schleife
Sie schildern zwei Besuche in einem sozialen Brennpunkt, die als Exposition gedacht waren. Da ich keine näheren Informationen dazu habe, kann ich Ihnen dazu keine konkrete Antwort geben. Ich habe es so verstanden, dass Sie diese Therapietermine mit dem Mord und dem SEK-Einsatz verbinden. Das sind beides Ereignissen, von denen Sie persönlich nicht betroffen waren, wenn ich es richtig verstanden habe. Ich kann mir vorstellen, dass das erstmal sehr gruselig ist, wenn wenige Stunden oder Tage, bevor oder nachdem man irgendwo war, dort etwas Schlimmes passiert. Unser Hirn fängt dann gerne an die Was-wäre-gewesen-wenn-Schallplatte aufzulegen. Fakt ist aber: Es ist Ihnen nichts passiert. Zumindest hatte ich das so verstanden. In solchen Momenten ist es wichtig, die Was-wäre-gewesen-wenn-Schallplatte sofort wieder abzuschalten und bei den Tatsachen zu bleiben. Die Tatsache ist, dass Ihnen nichts passiert ist. Sie sind nicht betroffen, sondern sicher.
Sie sorgen sehr gut für Ihre Sicherheit
Es scheint mir, dass Sie ein gutes Bauchgefühl / eine gute Intuition haben. Denn wenn ich es richtig verstanden habe, dann hatten Sie das Gefühl, dass der Mörder gefährlich ist, bevor er getötet hat. Ich gehe davon aus, wenn Sie sich auf Ihre Intuition verlassen, werden Sie auch weiter gut für Ihre Sicherheit sorgen können. Ihr Bauchgefühl kann echte gefährliche Situationen rechtzeitig erkennen.
Ihre Schilderung von der Drohung sagt mir auch, dass Sie gut für Ihre Sicherheit sorgen. Die Morddrohung hat Ihnen Angst gemacht, aber Sie wurden nicht getötet. Das bedeutet, wie immer Sie sich verhalten haben, war sehr gut in dem Moment der Bedrohung. Sie haben gut für Ihre Sicherheit gesorgt. Anschließend haben Sie sogar Anzeige erstattet, wenn ich das richtig verstanden habe. Auch das ist der richtige Weg. Egal was ein Polizist dazu sagt.
Nur eine persönliche Erfahrung kann „vorbei“ sein
„Es ist vorbei“ bezieht sich immer nur auf die konkrete, eigene traumatische Erfahrung. Nur diese Erfahrung ist vorbei.
Zusammengefasst
Es geht wohl darum, dass Sie zusätzliches Sicherheitsverhalten lernen. Damit können Sie sich selbst wieder mehr vertrauen. Sie können gefährliche Situationen rechtzeitig erkennen und weiterhin gut für Ihre Sicherheit sorgen.
Das angstauslösende Was-wäre-wenn-Gedankenspiel oder die Was-wäre-gewesen-wenn-Schallplatte gehören beide in den Müll. Stattdessen machen Sie sich bewusst, wie kompetent Sie mit bisherigen gefährlichen Situationen umgegangen sind und dass Ihnen nichts passiert ist.
Wenn es konkrete traumatische Erfahrungen mit entsprechenden Erinnerungsattacken gibt, dann gehören diese in eine qualifizierte Traumatherapie.
Vielleicht ist folgender Text noch hilfreich, um mehr Klarheit in dieses Thema zubringen. Es geht in Ihrem Brief in meinen Augen um unterschiedliche Ebenen, die noch nicht klar sind: Was passiert in einer Traumatherapie?
Ich hoffe, diese Erklärungen helfen Ihnen weiter.
Viel Kraft für Ihren Weg
Stefanie Rösch
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