Liebe Frau Rösch, ich habe eine Frage…
Wenn eine Person eine traumatische Erfahrung macht und in der Situation erstarrt, obwohl sie rein theoretisch hätte die Flucht ergreifen können, was kann die Person tun, damit ihr etwas ähnliches nicht wieder passiert? Ich denke an eine Person, die als Teenager sexuell missbraucht wurde und 25 Jahre später nochmal. Es waren verschiedene Orte und Situationen und Personen. Nun ist die Angst da, dass es wieder passiert. Was kann die Person tun, um nie wieder erstarrt zu sein? Das macht mich etwas ratlos.
Liebe Leserin,
das sind zwei verschiedene Themen für mich.
Zum einen die Frage nach (1) der Stressreaktion und der Schreckstarre als einer möglichen Reaktion und (2) zum anderen die Frage der Wiederholung, bzw. der Risikominimierung.
Zu (1) bin ich der Auffassung, dass wenn das Notfallprogramm der Stressreaktion (Notabschaltung = Erstarrenreaktion) einer Person X darin besteht, dass Sie in die Schreckstarre fällt, dann ist daran nichts zu ändern. Ich glaube aufgrund meiner Erfahrung, dass wir eines der drei Reaktionsmuster (Schreckstarre, Panik oder Emotionslos) als „Grundprogrammierung“ mitbekommen haben. Ich glaube, dass wir das nicht ändern können. Einen Beweis für diese Annahme gibt es nicht.
Allerdings können Sie auf der Ebene von (2) Kampftechniken und der Flucht, also den Verhaltensebenen VOR der Notabschaltung (Kampf / Flucht/ Erstarren) sehr viel tun. Sie können lernen, wie Sie sich sicher verhalten können, so dass das Risiko, wieder Opfer einer solchen Straftat zu werden, möglichst gering gehalten wird (Risikominimierung). Dazu ist es sinnvoll, sich genau anzuschauen, wie es zu den Taten kam und welche Vorsorge man heute, als erwachsene Person treffen kann, um nicht nochmal in eine vergleichbare Situation zu kommen. Das ist etwas, das man nur in einem Einzelgespräch und mit entsprechendem Wissen über Täterverhalten und Sicherheitsverhalten beantworten kann.
Wenn in der Betrachtung der Situation die Flucht theoretisch möglich gewesen wäre (unter der Voraussetzung, dass das tatsächlich der Fall war!! – was für Kinder zum Beispiel nicht unbedingt anzunehmen ist), dann kann man lernen, diese Möglichkeit viel früher zu sehen und als Kampftechnik einzusetzen, indem man die Situation zu einem Zeitpunkt verlässt, an dem sie noch nicht so bedrohlich ist, dass man erstarrt und seine Möglichkeiten eben nicht mehr sieht. Dass man diese Möglichkeit nicht mehr wahrnehmen kann, hat in der Regel damit zu tun, dass unsere Aufmerksamkeitsspanne sehr gering ist und wir uns in Gefahrensituationen voll und ganz auf die Gefahr konzentrieren und dann keinerlei Reize in unserem Umfeld mehr wahrnehmen KÖNNEN. Auch keine Fluchtmöglichkeit mehr.
Man kann das Risiko nicht völlig ausschalten, dass schlimme Dinge passieren. 100%ige Sicherheit gibt es nicht. Aber man kann eine Menge tun, um nicht (erneut)Opfer zu werden. Man kann ebenso einiges tun, um nicht ständig in Angst leben zu müssen. Eine gute Traumatherapie sollte all das bieten.
Herzliche Grüße
Stefanie Rösch