Achtung Gott: Leserfrage: Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern? (1)
13.08.2016 Veröffentlicht von Stefanie Rösch Achtung Gott!, Leserfragen 2 KommentareIch bin Opfer von Missbrauch und Vernachlässigung und arbeite mit einer sehr guten Traumatherapeutin. Leider ist sie keine Christin. Ich aber schon. Mein Problem ist, ich bete das Vaterunser. Bei dem Wort „Vater“ denke ich „himmlischer Vater“. Das hat geholfen. Die Trennung zwischen den zwei unterschiedlichen Vätern.
Aber dann kommt „vergib unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern..“ Ja, da ist das Problem. Ich spreche das aus, kann aber nicht vergeben – zumindest nicht umfassend. Wie soll ich etwas (umfassend) vergeben, was ich nicht weiß? Letztens wurde mir eine CD mit einer Predigt gegeben. Sie enthielt die Geschichte von dem Knecht dem von seinem Herrn ein riesiger Schaden vergeben worden ist und der kurz danach seinem Mitknecht eine kleine Sünde nicht vergab (Matthäus 18, 23 -25). Es tut weh, denn ich nehme meinen Glauben ernst. Ich würde mich freuen, Ihre Sicht zu lesen. Vielen Dank
Liebe Leserin,
Danke für Ihr Vertrauen und Ihre Frage. Vergebung ist tatsächlich ein Thema, das uns Christen immer wieder sehr beschäftigt und bei dem ich als Therapeutin immer wieder erlebe, dass man von Betroffenen erwartet, den zweiten Schritt vor dem ersten zu gehen.
Aus meiner Erfahrung heraus, ist Vergebung der letzte Schritt in einem oft langen Heilungsprozess. Nicht der erste. Folgende Überlegungen dazu:
1. Die Unschuldsvermutung
Ich kann nur eine Schuld vergeben, wenn ich sicher weiß, ob etwas geschehen ist, das Schuld für den Verursacher bedeutet. Wenn ich es nicht sicher weiß, dann gehe ich persönlich erstmal von der Unschuldsvermutung aus: Was ich nicht erinnere, ist erstmal nicht geschehen. Wenn es in meiner Erinnerung oder in meinen Symptomen keinen Hinweis auf einen Schuldigen oder schuldhaftes Verhalten gibt, dann gehe ich davon aus, dass nichts geschehen ist. Ich muss nicht annehmen, dass mehr geschehen ist als ich erinnere. Das ist meine Entscheidung und diese Entscheidung fälle ich zu meinen und als Christin auch zu Gunsten des Täters. Die geschieht indem ich davon ausgehe: Wenn ich nichts erinnere, dann ist auch nichts geschehen, was mein Leben negativ beeinflusst. Im Grunde halte ich mich damit auch an unser Deutsches Recht.
Wenn ich mich dann irgendwann erinnere, dann setze ich mich damit auseinander. Wenn ich Beschwerden habe, dann habe ich Erinnerungen, egal auf welcher Ebene: Bilder, Geräusche oder Gesagtes, Gerüche, einen Geschmack oder auch eine Körpererinnerung. Dann muss ich mich damit auseinandersetzen.
2. Anerkennen
Wenn ich erfahre, weil ich mich erinnere, dass ich zum Opfer gemacht wurde, dann ist der erste notwendige Schritt in der Heilung in meinen Augen die Anerkennung der Erfahrung: Es ist wirklich passiert. Das ist oft nicht einfach, weil der Mensch nicht möchte, dass schlimme Dinge passieren. Wir wollen nicht ohnmächtig sein und möchten am liebsten leugnen, was uns zugestoßen ist. Aber es ist wichtig sich selbst einzugestehen: Ja, das ist mir passiert.
3. Verantwortung übernehmen
Der nächste Schritt ist für mich zu beobachten, welche Auswirkungen das Erlebte auf mich hat und welche Gefühle damit verbunden sind. Es gibt immer Ohnmacht, Wut und Angst. Manchmal gibt es auch verwirrendere Gefühle wie Erleichterung, Scham, Erregung. Es ist wichtig, alle Gefühle zu spüren und anzuerkennen, zu würdigen und auszudrücken. Dazu gehört für mich auch, die Verantwortung für diese Reaktionen und die Beschwerden zu übernehmen. Ich kann nicht schlafen, ich bin gereizt, ich falle immer wieder zurück in alte Verhaltensweisen, ich trinke, ich nehme Medikamente, ich habe die Erinnerungen, ich habe die Schmerzen, ich empfinde all das, also sind all diese Beschwerden allein meine Verantwortung. Das macht keine Aussage über die Schuld. Nur darüber, wer die Macht hat, Veränderung zu bewirken.
4. Heilung: Beschwerden besiegen
Niemand außer uns selbst kann die psychischen und körperlichen Folgen jeglicher Verletzung heilen– mit Gottes Hilfe. Gott hat uns die Macht zur Heilung mitgegeben: Der Körper heilt sich selbst. Behandler können nur die Bedingungen verbessern, manchmal bis zu dem Punkt, dass Heilung überhaupt erst möglich wird. So hat Gott uns auch die Fähigkeit zu einem gesunden und vernunftbegabten Geist gegeben (2. Timotheus 1,7), der es uns erlaubt, Macht über uns selbst zu haben. Wir sind zur (inneren) Freiheit berufen (Galather 5, 13 ff). Die Methoden der körperlichen Heilung hat unser Körper bereits mitbekommen. Für die psychologische Seite gibt es Psychotherapeuten, die einem heilsame Strategien beibringen.
5. Vergebung: Erkennen, dass der Täter keine Macht hatte
Wenn es mir dann besser geht und ich die Folgen und Symptome bereits am Besiegen bin, dann kann ich mich nochmal der Ursache, dem Täter zuwenden. Dann aber hat er nicht mehr die Macht, weil ich mir die Macht über meine Gesundheit bereits erobert habe. Dann gibt es zwar noch eine Schuld, da der Täter die Ursache für mein Leid gesetzt hat, aber ich habe entschieden, was ich daraus mache. Jeden Tag wieder neu.
Was immer er bewirkt hat, darüber hatte er nie Macht, sondern immer nur ich. So gibt es nichts mehr, was der Täter tun kann, um seine Schuld zu begleichen. Denn die Symptome hätte er sowieso nie wegnehmen können. Das war immer mein Job und meine Freiheit als Betroffene oder Betroffnener.
Das ist der Zeitpunkt im Heilungsprozess, an dem ich vielleicht und hoffentlich erkennen kann, dass auch der Täter nur aus seiner Vergangenheit heraus gehandelt hat, sich vom Bösen hat zur Angst verführen lassen und aus der Angst heraus anderen Angst und Leid zugefügt hat. Wenn ich das erkenne, dann kann ich, das ist meine (Rösch) ganz, persönliche Erfahrung, anfangen zu vergeben. Dem Täter die Schuld zu erlassen, weil ich sehe, dass alles, was ich jetzt noch tue, ist mich selbst an den Täter zu binden, wenn ich weiter auf die Schuld schaue, die nicht beglichen werden kann. Ich mache mich selbst ohnmächtig. Ich unterstelle mich dem Täter und seinem Handeln, anstatt die Freiheit in Anspruch zu nehmen, die Gott mir zugesagt hat.
Ich stelle mir das so vor als wenn der Täter insolvent geworden ist. Da ist nichts mehr (Gerechtigkeit / Wiedergutmachung / Begleichung der Schuld) zu holen, weil der Täter (emotional, spirituell) bankrott ist. Also erlasse ich ihm seine Schuld und gebe die Schuld an Gott ab (bei der irdischen Insolvenz schalte ich die Behörden ein). Dadurch löse ich mich vom Täter. Ich kann weitergehen und jemand anderes kümmert sich um die Schuld. In unserem Fall Gott.
Ich vertraue – inzwischen – tief darauf, dass Gott für Gerechtigkeit sorgt, wo es uns nicht möglich ist. „In meinem Himmel“ ist ein Film, der mit dieser Gerechtigkeit endet, auch wenn das vielleicht nicht das Erzählziel des Filmemachers war. Aber es ist das, wie ich dieses Ende verstehe. Gott sorgt für Gerechtigkeit. Weitere Filme, die mir mit dem Thema Vergebung geholfen haben sind Grace Card (Filmbesprechung) und Philomena (Filmbesprechung).
Ich glaube auch, dass es einfach wichtig ist, genau das zu tun, was Sie getan haben: Andere zu fragen, wie sie mit diesem Thema umgehen um Gott auch auf diese Weise eine Möglichkeit zu geben, zu uns zu sprechen. Mal abgesehen davon, dass ich tief und fest glaube, dass Gott uns vor allem dann weiterhilft, wenn wir nicht mehr weiterwissen. Solange wir es selbst lösen können, traut er uns zu, es auch selbst hinzukriegen. Er glaubt ja an uns. Er weiß, was wir können. Er hat uns geschaffen. Er hat seine ganz eigene Art, uns dann zu überraschen und zu ermutigen, wenn wir schon fast nicht mehr glauben wollen, dass er da ist.
Ich wünsche Ihnen und allen, die auch mit dem Thema Vergebung ringen, heilsame Begegnungen und Gottes Segen.
Ihre Stefanie Rösch
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