„Überwundene Angst bringt Freiheit und Verantwortung“ – Stefanie Rösch, 2013

Leserfrage: Maskenpflicht ist Maskenzwang! Ihr Beitrag geht an der Realität vorbei.

10.05.2020 Veröffentlicht von Leserfragen 0 Kommentare

Sehr geehrte Frau Rösch,
über Ihren Ratschlag zum Themenkomplex Maskenpflicht und Trauma (Link zum Video / oder zum Blogbeitrag) bzw. Retraumatisierung bin ich, gelindes gesagt, enttäuscht und entsetzt.
Sie verkennen zwei grundlegende Dinge, wenn Sie empfehlen, sich klar zu machen, dass es sich nicht um eine Wiederholung der bedrohlichen Situation aus der Vergangenheit handelt, weil das Tragen der Maske freiwillig sei und man sie jederzeit absetzen könne.
Falsch I: Maskenpflicht bedeutet Maskenzwang und ist damit das Gegenteil von Freiwilligkeit.
Falsch II: Haben Sie schon mal versucht, die Maske im Supermarkt abzuziehen? Viel Spaß!
Ihr Ratschlag geht an der Realität vorbei und ist KEINE Hilfe für Betroffene! Ich bitte Sie sehr, ihn noch einmal zu überdenken und zu überarbeiten.
Mit freundlichen Grüßen und besten Wünschen zur Gesundheit

Wenn Sie sich diesen Artikel vorlesen lassen wollen, können Sie das im YouTubeKanalhttps://youtu.be/0ZGpbmGPSig tun. Klicken Sie einfach auf das Bild.

Sehr geehrte Leserin,

die beschriebene Methode setzt auf der Ebene der Erinnerungsattacke an. Nur da kann sie wirken.

Sie befinden sich mit Ihren Einwänden auf der Ebene einer Selbst- und Weltbild-Diskussion. Da kann die Methode nicht wirken, denn dafür ist sie nicht gedacht.

Die beschriebene Methode

Meine Erfahrung mit dieser Methode Warnreize zu reduzieren sind durchgängig positiv. Insofern gibt es Betroffene, für die diese Methode so wie ich sie geschildert habe, funktioniert. Ich habe darauf hingewiesen, dass es nicht für alle funktioniert und auch keine Therapie ersetzt. Deswegen sehe ich keinen Grund den Beitrag zu ändern.

Ich persönlich entscheide, ob ich die Maske aufsetze. Niemand drückt sie mir ins Gesicht. Es ist genau dieser Unterschied, auf den es ankommt, wenn es um die Angst geht.

Maskenpflicht bedeutet Maskenzwang.

Ich fühle mich durch die Maskenpflicht nicht gezwungen. Alleine dadurch ist Ihre Aussage nicht allgemein gültig. Ich kenne genügend Leute, welche die Maskenpflicht nicht angenehm finden, aber auch nicht als Zwang. Ich höre natürlich, dass Sie sich dadurch gezwungen fühlen. Ich vermute, dass Sie auch noch ein paar Menschen kennen, welche die Maskenpflicht als Zwang empfinden.

Wir haben eine unterschiedliche Sicht auf die Welt.

Auch wenn es eine Maskenpflicht gibt, halte ich mich freiwillig daran. Es gibt Regeln und Gesetze. Durch Gesetze fühle ich mich auch nicht gezwungen, aber natürlich könnte ich das. Ich kann es als sinnvoll/notwendig sehen, dass es für das Zusammenleben in einer Gesellschaft oder in Beziehungen ganz allgemein bestimmte Regeln gibt. Ich finde nicht immer alle Regeln und Gesetze sinnvoll, aber mir ist bewusst, dass es auf einer gesellschaftlichen Ebene nicht ohne Regeln geht.

Aus diesem Grund werde ich in Supermärkten oder im Bus auch zurecht angesprochen, wenn ich keine Maske trage. So funktioniert Gesellschaft. Andere Dinge muss ich auch steuern und kann sie nicht machen, wie es mir beliebt. Wenn ich unbekleidet in den Supermarkt gehen würde, würde ich wohl auch angesprochen werden, oder wenn ich im Supermarkt eine Zigarette anzünde.

Eine neue Regel ist das Tragen von Masken. Maske tragen ist unangenehm. Keine Frage. Aber es muss eben keine Angst machen. Ob ich es als Zwang oder gesellschaftliche Notwendigkeit sehe, ist meine Freiheit. Ich entscheide, womit es mir besser geht: Das mit der Maske als Zwang zu sehen oder als notwendiges Übel.

Inwieweit die Mitarbeiter im Laden das Ansprechen freundlich durchführen können oder aus irgendwelchen Gründen genervt oder patzig sind, und wie ich damit umgehe, ist ebenfalls eine Selbst- und Weltbild-Frage für mich. Das Verhalten der Mitarbeiter kann ich nicht ändern. Wie ich das Verhalten wahrnehme, bewerte und wie ich darauf reagiere kann ich entscheiden und steuern.

Es ist ungerecht und tragisch, aber zu ändern.

Dass jemanden traumatisiert ist und deswegen ein Problem mit der Maskenpflicht hat, ist tragisch. Es ist ungerecht. Aber nur dann zu ändern, wenn derjenige Verantwortung dafür übernimmt, dass er diese Schwierigkeiten hat und einen Weg findet, damit umzugehen. Betroffene sind an dieser Stelle sehr erfinderisch. Das wissen Sie, wenn Sie selbst betroffen sein sollten oder aber mit Betroffenen arbeiten. Zur Zeit gibt es so viele Möglichkeiten, für sich einkaufen zu lassen, sich Nahrungsmittel schicken zu lassen und manche Supermärkte bieten es an, ihnen Ihren Einkauf zusammenzustellen, so dass Sie nur noch abholen müssen. Man hat durchaus Möglichkeiten, der Maskenpflicht und damit der Auseinandersetzung mit der Angst zu entgehen.

Es gibt Entscheidungsfreiheit.

Die Frage ist, ob ich den Zwang oder die Freiheit sehe (Weltbildfrage). Aus meiner Erfahrung sehen traumatisierte Menschen vor allem den Zwang und nicht ihre Handlungsfreiheit. Vor allem wenn sie über einen längeren Zeitraum wiederholt Gewalt erlebt haben, neigen sie dazu, keine Verantwortung mehr für ihre Beschwerden und ihr Überleben zu übernehmen. Nicht weil sie es nicht könnten oder wollen würden, sondern weil man es ihnen ein Leben lang verboten und gewaltsam abtrainiert hat. Sie durften es nicht lernen. Dazu gehört auch die Tendenz, sich in Schuldzuweisungen zu verlieren anstatt sich auf die Zukunft und die Veränderung zu konzentrieren. Auch das keine freie Entscheidung, sondern eine Überlebensnotwendigkeit.

Meine Aufgabe als Therapeutin sehe ich darin, so vielen Betroffenen wie möglich, möglichst viel persönliche Freiheit zu ermöglichen. Deswegen kann ich Methoden vorschlagen und Erklärungen liefern. Für den einen sind diese Vorgehensweisen hilfreich, für den anderen nicht. Wir sind einzigartig. Ich kann nur meine Perspektive und meine Berufserfahrung zur Verfügung stellen. Das ist sicher nicht für alle der passende Weg. Traurig aber wahr.

Ich sehe das so:

Wir haben nur dieses Leben und jeder hat in meinen Augen das Recht darauf, seinen freien Willen in Anspruch zu nehmen. Mit Freiheit kommt auch Verantwortung. Die beiden gehen Hand in Hand. Deswegen gehört in meinen Augen dazu, Verantwortung für mein Denken, Fühlen und Handeln zu übernehmen. Wenn ich entscheide, zu dieser Gesellschaft dazugehören zu wollen, dann muss ich auch die Regeln akzeptieren oder damit rechnen, dass diese Gesellschaft auf einen Regelbruch reagiert. Wenn ich zwar in dieser Gesellschaft leben will, alle Vorteile haben will, aber nicht bereit bin meinen Teil der Verantwortung zu übernehmen, muss ich auch damit rechnen, dass die Gesellschaft früher oder später darauf reagieren wird. Wenn ich hier nicht leben will, dann wird es Zeit auszuwandern.

Das mag Ihnen, liebe Leserin, unangemessen hart vorkommen. In meinen Augen ist das der einzige Weg und die einzige Haltung zu größtmöglicher persönlicher Freiheit für möglichst viele Menschen. Absolute Freiheit (ich mache, was ich will und wie es mir gefällt ohne Rücksicht auf andere) ist in unserer heutigen Gesellschaft nicht möglich.

Dabei ist mir sehr bewusst, dass wir keinen Einfluss darauf haben, in welche Welt oder in welches Land wir hineingeboren werden. Das wird uns tatsächlich aufgezwungen.

Aber danach besteht zunehmend Freiheit.

Freiheit ist möglich. Sie kommt nicht von alleine, sondern wir sind aufgefordert, sie zu erobern, zu erkunden und festzustellen, was alles dazu gehört (Weltbild und Selbstbild).

Insofern kann es für alle die glauben, dass Maskenpflicht gleich Maskenzwang ist hilfreich sein über ihr Selbst- und Weltbild nachzudenken. Das Ziel ist immer, sich zu überlegen, ob es mir guttut, mich über Dinge, die ich nicht ändern kann, aufzuregen. Ich kann entscheiden, ob ich das tun möchte. Oder eben nicht. Stattdessen konzentriere ich mich auf das, was ich ändern oder beeinflussen kann.

Die Maskenpflicht kann ich nicht beeinflussen, meine Angst schon.

Viele Dank für Ihre Gedanken und den Mut sie mitzuteilen.

Ihre Stefanie Rösch

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