Ich glaube, ich habe die Hier-und-Jetzt-Übung in diesem Blog noch nie ausführlich beschrieben, obwohl ich sie immer wieder erwähnt habe. Das soll sich heute ändern.
Wenn man mit belastenden Erinnerungen kämpft, Erinnerungen, die sich immer wieder wie von selbst aufdrängen, nicht enden wollen und Ihnen als grausame Erinnerungsattacken das Leben schwermachen, dann ist es aus meiner Erfahrung besonders wichtig, dass Sie erleben, dass SIE entscheiden, womit Sie sich bewusst beschäftigen wollen. Das erreichen Sie am schnellsten, wenn Sie Ihr Bewusstsein mit der Gegenwart füllen, also mit dem, was Ihre Sinnesorgane jetzt gerade wahrnehmen. Das funktioniert folgendermaßen. Beantworten Sie die folgenden Fragen, während Sie sie lesen:
Was sehen Sie jetzt gerade? Was hören Sie jetzt – im Raum oder weiter weg? Können Sie Ihre Füße auf dem Boden spüren? Was machen Ihre Hände gerade? Können Sie den Stuhl spüren, auf dem Sie gerade sitzen? Haben Sie ein Getränk in der Nähe und können einen Schluck nehmen und schmecken, welche Aromen Sie wahrnehmen? Oder haben Sie ein Parfum oder einen anderen riechenden Gegenstand, den Sie bewusst wahrnehmen können? Wonach duftet er?
Wenn Sie anfangen, sich darauf zu konzentrieren, was Sie gerade sehen, hören, schmecken, riechen und spüren, kann es hilfreich sein, das laut vor sich her zu sagen. Oder Sie können jemanden bitten, Ihnen aus der Erinnerungsattacke herauszuhelfen, indem er Sie danach fragt, was Sie gerade wahrnehmen. Diese Person kann genau nachfragen, was Sie wahrnehmen, also zum Beispiel, welche Formen, Farben, Oberflächen, Materialien. Ein Wollpulli hat eine andere Oberfläche als ein Baumwollhandtuch oder ein Holztisch oder ein Metalllöffel.
Wenn ich, Stefanie Rösch, in diesem Augenblick mein Bewusstsein mit Gegenwart füllen möchte, dann würde sich das folgendermaßen anhören: Ich sehe vor mir den Bildschirm meines Computers. Ich höre Filmmusik dazu, eine Geige im Moment mit einem leicht melancholischen Thema. Ich rieche den Duft von Beeren von meiner Kerze und mein Tee schmeckt nach Ingwer, ein bisschen zitronig und leicht scharf. Der Tee ist nur noch lauwarm, und jetzt sind viele Geigen zu hören und irgendwelche Bläser und das Klackern der Tastatur. Die Buchstaben werden rot unterstrichen, wenn ich einen Schreibfehler mache oder das Programm ein Wort wie zitronig nicht kennt und so weiter.
Machen Sie die Hier-und-Jetzt-Übung immer wieder und wieder. Sie hilft Ihnen zu spüren, dass SIE entscheiden, worüber Sie nachdenken, selbst wenn etwas sehr Belastendes passiert ist.
Es mag sein, dass es Ihnen am Anfang sehr schwer fällt, diesen Text am Stück zu lesen und zu verstehen, aber geben Sie nicht auf! Lesen Sie die Zeilen wieder und wieder bis Sie sie verstehen. Auch wenn es einmal 10 Minuten oder länger dauert. Das kann durchaus sein, wenn Sie etwas sehr Belastendes erlebt haben.
Kommen Sie immer wieder zurück in die Gegenwart! Zurück in den Augenblick, in dem nichts mehr passiert und in dem Sie sicher sind.
Nur Mut!
Sehr guter Artikel und mal wieder aus dem Leben gegriffen. Diese Erinnerungsattacken vergiften die Gegenwart und führen wieder auf Abwege. Sie sind regelrechte Fallen. Ich werde die Übung anwenden.
Vielen Dank für die Rückmeldung. Aus dem Leben gegriffen und langjährig erprobt. Aber wie alles braucht es manchmal üben, üben, üben 🙂 und dann habe ich ja auch Menschen getroffen, die solche Dinge einfach nur verstehen müssen und gleich anwenden können. Wie schön, dass wir alle so unterschiedlich sind 🙂
Super gut! Danke!
Viel Erfolg und danke für die Rückmeldung!
Ich kenne diese Übung sehr gut und versuche sie immer wieder anzuwenden. Manchmal klappt es, meistens jedoch nur, indem ich mich auf Umgebungsgeräusche konzentriere.
Doch sehr oft führt diese Übung dazu, dass es mich noch weiter aus dem Hier und Jetzt katapultiert, vor allem, wenn sie von meinem Therapeuten angeleitet wird, aber auch, wenn ich sie alleine machen möchte. Jeder Sinnesreiz ist dann zu viel. Leider führen Erinnerungsattacken bei mir oft dazu, dass ich intensiv (d. h. lange und tief) dissoziiere (ich leide unter der DIS mit Täterintrojekten) und mein ganzes System möchte dann einfach nur weg sein, denn egal wo wir jemals waren, es war dort gefährlich und in dem Moment, in dem ich in der Erinnerung feststecke, gibt es absolut kein Vertrauen mehr, dass es im Hier und Jetzt sicher sein könnte. Das einzige was dann hilft ist das stete und ruhige Zureden meines Therapeuten, dass er da ist, nicht gehen wird und ich in Sicherheit bin zusammen mit einer abgesprochenen Berührung am Unterarm und der Erinnerung daran, dass ich wieder atmen kann und darf.
Ich finde diese Hier und Jetzt Übung wunderbar für jeden, der noch in der Lage ist, in einem solchen Moment seine Gedanken auf etwas zu bündeln und wende sie im Freundeskreis oder im Hort an, wenn die Gedanken meiner Freunde oder der Kinder sich panisch festfahren. Es hilft ihnen, wenn ihre Gedanken auf eine andere Spur gebracht werden und das ist ja der Zweck der Übung, wieder Chef über die eigenen Gedanken zu werden.
Und ich möchte jeder/jedem Mut machen, wenn gerade diese Übung so nichts positives ausrichtet, egal wie viel man übt, den Mut aufzubringen sich Übungen kreativ umzugestalten bis sie funktionieren.
Ich habe mir die Übung daher folgender Maßen abgewandelt: Da mein Therapeut ja nicht rund um die Uhr bei mir sein kann, so wie es die Erinnerungsattacken aber sind, habe ich eine Uhr am Handgelenk, die mir Wochentag, Datum, Jahreszahl und Uhrzeit verrät. Wenn ich alleine bin und ins Wiederleben falle, schaue ich auf die Uhr und informiere mich darüber welchen Tag und welches Datum wir haben, dabei ist vor allem die Jahreszahl extrem wichtig, denn nur die verrät mir, dass es tatsächlich vorbei ist. Und sobald ich das aktuelle Jahr wieder verinnerlicht habe, funktioniert auch die Verortung im Raum, dann kann ich langsam wieder an Sicherheit glauben und zurück kommen.
Entschuldigung, dass dieser Text so lang geworden ist. Mir war wichtig meine Erfahrung mit dieser Übung mitzuteilen, weil es lange gebraucht hat, bis mein Therapeut und ich verstanden haben, warum sie mir nicht hilft und wie wir sie abwandeln können, damit es doch helfen kann.
Vielen Dank für diesen tollen Hinweis. Ich kann mich nur voll anschließen. Es stimmt, es klappt nicht immer und nicht immer „so einfach“ und ich kann nur unterschreiben, dass man nach kreativen und ganz persönlichen Lösungen suchen kann und auch immer eine finden wird. Da haben Sie einen großartigen Therapeuten, der sich wirklich auf Sie eingelassen hat. Das tut gut zu hören, da ich leider auch zu oft höre, dass die Suche nach passender Begleitung so mühsam ist.
Wenn ich die Übung mit meinen Klienten mache, dann wiederhole ich oft folgende Sätze: „Es ist vorbei“, „Sie sind jetzt sicher“, „Sie sind hier bei mir sicher“, „Hier in der Praxis sorge ich für Sicherheit“ und „Wir haben heute den 12 Feburar 2017“, auch das.
Also nochmal vielen Dank für die Anregungen, den Erfahrungsbericht und das Mut-Machen!!!
Davon können wir gar nicht genug weitergeben! Danke!