„Überwundene Angst bringt Freiheit und Verantwortung“ – Stefanie Rösch, 2013

Noch mehr Sinn: Feinsinn

20.09.2015 Veröffentlicht von Lesestoff 2 Kommentare

Feinsinn im Duden-online eingegeben produziert vor allem folgende Begriffe: Feinfühligkeit, Empfindsamkeit, Empfindlichkeit, die Fähigkeit, auf bestimmte Reize mehr oder weniger empfindlich zu reagieren, Zartsinn, Zartgefühl und natürlich gibt es auch noch andere Definitionen, wenn man bei Empfindlichkeit weitersucht.

Ich frage mich, ob wir unter Feinsinn nicht die Fähigkeit verstehen dürfen, Dinge wahrnehmen zu können, die wir nicht mit unseren anderen Sinnesorganen wahrnehmen. Umgangssprachlich nennen wir das Intuition, Bauchgefühl, den 6. Sinn oder auch Hell-Fühligkeit. Wobei es die Hellfähigkeiten dann wieder in allen Sinnesqualitäten gibt, also als hellhören, hellsehen, hellfühlen im Sinne von Körperwahrnehmungen spüren und – soweit mir bekannt – seltener hellriechen und hellschmecken. Aber im Grunde alles möglich. Ja es klingt seltsam, aber warum sollte es nicht Menschen geben, welche so feine Sinne haben?

In meiner Praxis begegnen mir diese Menschen immer wieder. Das große Leid, wenn sie zu mir kommen, besteht immer wieder darin, dass sie Dinge wahrnehmen, welche viele Menschen – einschließlich mir – nicht wahrnehmen. Die meisten Menschen reagieren darauf ablehnend, vermutlich aus Angst heraus. Sich vorzustellen, mein Gegenüber kann spüren, wie es mir gerade geht oder womöglich Kontakt mit meiner toten Mutter aufnehmen oder in meine Zukunft sehen oder meine Gedanken lesen – letzteres ist mir bisher persönlich noch nicht begegnet – das ist schon ziemlich gruselig. Da entsteht auch bei mir immer wieder für einen Moment die Angst, durchschaut zu werden oder dass der andere meine dunkelsten Seelenecken ausleuchtet.

Auf der anderen Seite sind mir bisher nur Menschen begegnet, die sehr achtsam und respektvoll mit ihren feinen Sinnen umgegangen sind und eher Hilfe suchen, weil es für sie oft schwierig ist, sich gegen diese feinen Wahrnehmungen anderer abzugrenzen. Schließlich müssen sie ja die „normalen“ Reize, die wir alle wahrnehmen auch noch verarbeiten und das andere läuft irgendwie zusätzlich. Das kann ganz schön anstrengend sein. Ist ein Mensch mit besonders feinen Sinnen Gewalterfahrungen ausgesetzt, so kann dies noch ganz andere Auswirkungen haben als bei uns „anderen“. Im Grunde geht es aber wie immer „nur“ darum, die besondere Fähigkeit zu akzeptieren und zu lernen, damit auf eine gesunde Art umzugehen. Auch das kann man lernen.

Der zweite Aspekt des Feinsinns ist für mich tatsächlich die Frage, inwieweit wir alle eine Art Feinsinn besitzen, den wir als Intuition oder Bauchgefühl bezeichnen. Haben wir nicht alle manchmal Ahnungen? Oder spüren drohende Gefahren? In all den Jahren Traumatherapie ist mir bisher nur eine Person begegnet, die nicht sagen konnte, dass sie im Vorfeld so etwas wie eine Warnung empfunden hat. Manchmal als Zögern oder Unsicherheit, einen Weg zu gehen, noch länger auf einer Party zu bleiben, zu überholen. Oder das innere Gefühl, heute besser zu Hause bleiben zu sollen. Aus eigener Erfahrung kenne ich den Gedanken: „Gefahr“, der mir in ein zwei Situationen durch den Kopf schoss und mich dazu bewegte, etwas nicht zu tun oder eine Handlung abzubrechen. Ich bin froh sagen zu können, dass mir nie etwas passiert ist. Ich habe auf mein Bauchgefühl gehört und das war gut.

Es hat eine Weile gedauert, sich das wieder mehr zu trauen. Ein, zwei unangenehme Situationen waren dazu schon notwendig. Denn im Grunde verlernen wir in unserer heutigen Welt, auf diesen Bauchgefühl zu hören. Wir fühlen uns sicher, wir müssen uns anpassen und lernen dadurch, dieser feinen Wahrnehmung von Gefahr in uns zu misstrauen. Vor allem, wenn wir öfter mal Angst haben und dann nie etwas passiert. Schnell glauben wir, unsere Angst sei unbegründet gewesen und könne ignoriert werden. Dabei kann man diese Momente einfach als Trainingscamp begreifen, in dem es darum geht, unter sicheren Bedingungen einzuüben, auf dieses Gefühl zu hören und sich entsprechend zu verhalten.

Wann haben Sie das letzte Mal auf Ihren Bauch, Ihre Intuition gehört? Und dann ist tatsächlich nichts passiert? Ja klar, WEIL Sie darauf gehört haben und nicht, weil nichts passiert WÄRE. Das dürfen wir uns immer wieder bewusst machen. Wir haben einen Feinsinn. Wir haben eine feinere Wahrnehmung als wir denken, alle. Denn auch heute in unserer eigentlich sicheren Welt, gibt es Gefahren, die wir umgehen können, wenn wir sie rechtzeitig wahrnehmen. Es spielt doch keine Rolle, wie das genau geht. Es ist gut zu wissen, dass es so ist und dieses Wissen zum eigenen Wohlbefinden einzusetzen. Also hören Sie wieder mehr auf Ihre Intuition.

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2 Kommentare

  1. Katrin B. sagt:

    Liebe Frau Rösch, vielen Dank für Ihre Beiträge und die vielen, hilfreichen Informationen, die in Ihrem Blog zu finden sind. Ich bin durch die Erwähnung des Begriffs Täterintrojekt in meiner Therapie auf Ihre Seite gestossen und habe Ihre Erklärung der giftigen Gedanken sehr anschaulich gefunden.

    Viele Grüße aus dem hohen Norden
    Katrin Brock

    1. Stefanie Rösch sagt:

      Liebe Katrin,
      vielen Dank für Ihre Rückmeldung. Es freut mich, dass Ihnen die Texte weitergeholfen haben. Ich finde das Konzept und das Arbeiten mit giftigen Gedanken auch immer wieder hilfreich.
      Herzliche Grüße
      Stefanie Rösch

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